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Eine Summe von Chance. Ein Gespräch mit Christian Lohr

Beitrag im NUN-Magazin für Konstanz und Kreuzlingen, Ausgabe 3

[Auszug]


Ein türkises Mehrfamilienhaus schräg gegenüber eines meterhoch umzäunten Sportplatzes. Von drüben klingt fröhliches Geschrei eines Fußballspiels in das dicht bebaute Wohnviertel nahe des Kreuzlinger

Bahnhofs. Wir klingeln, die Tür geht auf, eine Bewohnerin mit einem Kind an der Hand kommt uns an der Treppe entgegen und ahnt bereits, zu wem wir wollen. „Gleich dort oben“, sagt sie und deutet auf einen offenen Wohnungseingang, in dem schon das freundliche Gesicht einer älteren Dame zu sehen ist. „Grüezi. Kommen Sie rein. Er wartet schon nebenan.“ Wir tun, wie geheißen, und betreten den geräumigen Flur. „Kommen Sie rein! Ich muss nur noch kurz diese eine Mail zu Ende schreiben, einen Moment“, begrüßt uns jetzt auch Christian Lohr aus einem Raum zu unserer Rechten. Er tippt konzentriert auf einem

Tablet, das er vor sich auf dem Esstisch stehen hat. Wir legen derweil unsere Jacken ab, richten uns ein, sammeln uns kurz und

setzen uns Christian Lohr gegenüber. In seiner Wohnung habe er zwar auch ein Büro, erzählt er uns und legt den Touchpen beiseite, er empfange uns aber lieber in seinem Esszimmer – so klassisch im Büro

finde er langweilig.


Christian Lohr hat alle Hände voll zu tun, könnte man sagen. Neben seinen Ämtern als Nationalrat in der Schweiz und als Thurgauer Kantonsrat arbeitet er noch als Journalist, ist Dozent an vier Hochschulen und engagiert sich darüber hinaus in drei verschiedenen Vereinen: Als Co-Präsident bei Pro Infirmis, als Vorstandsmitglied

im Regionalverein insieme Thurgau und als Mitglied der Politik- und

Sport-Kommission bei PluSport. „Und dann kommen auch noch die Interviews“, scherzt er auf die Frage, wie er das alles schafft. „Man muss viel Zeit investieren“, erzählt er. „Wenn ich zuhause bin, dann gibt es Phasen, in denen ich sehr oft morgens um 5 Uhr im Büro sitze und zwei, drei Stunden in Ruhe arbeite. Ich kann dann meine Texte schreiben, Reden vorbereiten und so weiter. Ich habe das Glück, dass ich ein Morgenmensch bin und nicht so viel Schlaf brauche“, beendet er den Satz lächelnd und lehnt sich etwas zurück. Auch am Vortag sei er erst um 22 Uhr von einem Termin nach Hause gekommen. Er kann dann nicht sofort schlafen, trinkt vielleicht noch ein Bier, zappt durch das Fernsehprogramm. „Ich bin eben auch ein Informationsmensch. Man hat ja immer das Gefühl, dass man die ersten und die letzten Nachrichten gesehen haben muss.“


Als Politiker ist Christian Lohr in den jeweils drei Wochen andauernden Sitzungsphasen nur an den Wochenenden zuhause und unter der Woche in Bern. Hinzu kommen 20 Kommissionssitzungen

von bis zu drei Tagen am Stück – ebenfalls in Bern. „Wenn wir keine Sitzung haben, heißt das aber nicht, dass wir nicht arbeiten. In dieser Zeit muss man die ganzen Grundlagen erarbeiten, sich

mit den verschiedensten Themen auseinandersetzen, viel lesen, sich mit Bürgerinnen und Bürgern treffen. Es ist ja unsere Aufgabe, dass wir vor allem einmal zuhören, uns dazu Gedanken machen und dann entscheiden, wie wir vorgehen wollen. Das ist schon sehr zeitintensiv.“ Wie zeitintensiv, lässt sein Smartphone auf dem Tisch erahnen, das kontinuierlich nach Aufmerksamkeit fragt.


„Ja, organisieren ist bei mir ein zentrales Thema.“ Er beugt sich vor und kratzt sich am Kopf, während er darüber nachdenkt, was er als nächstes sagen wird. „Ich habe gelernt, mich und mein Leben zu organisieren.“ Zusätzlich noch. Ganz abgesehen von dem, was er beruflich und ehrenamtlich macht. „Ich brauche doch eine ganz wesentliche Unterstützung im Alltag. Habe verschiedene Menschen, die

mir helfen. Sogar meine Mutter, die mittlerweile 85 ist, will auch noch mithelfen. Das finde ich toll.“ Das war also die freundliche Dame, die uns die Tür geöffnet hatte. Sie wohnt in einer Wohnung

ein Stockwerk tiefer. „Schön getrennt. Das funktioniert wunderbar. Sie spürt, dass sie eine wichtige Aufgabe im Leben

hat. Die hat sie natürlich mit meiner Geburt eh bekommen.“ Denn Christian Lohr kam am 5. April 1962 ohne Arme und mit fehlgebildeten Beinen zur Welt. Er ist einer der letzten Contergan-Geschädigten

in der Schweiz, wo das Medikament auch unter dem Namen Softenon bekannt ist. Beide waren als Beruhigungsmittel von 1957 bis 1961 auf dem Markt und führten in der Schwangerschaft zu schweren Fehlbildungen der Embryonen.


Obwohl er nicht gehen kann, ist Christian Lohrs wichtigstes Werkzeug sein rechter Fuß. Dieser ist länger als der linke und sehr beweglich. Während unseres Gesprächs ruht er die meiste Zeit auf dem

Tisch, wenngleich die Sitzfläche seines Stuhls nicht höher ist als unsere. Als andere Kinder das Laufen lernten, lernte er, mit mit seinem rechten Fuß sein Leben zu gestalten. Er arbeitet viel am Tablet und unterwegs am Handy – beides bedient er mit seinem Fuß geschickter als so mancher Zweihänder. Er hat gelernt, mit der Technik umzugehen – so wie alle anderen aus seiner Generation und davor es auch mussten, die nicht zu den „Digital Natives“ gehören. „Die Leute nehmen immer an, dass mir was fehlt. Viele fragen: Fehlen

dir die Arme nicht? Fehlt dir die Hand nicht? – Nein. Ich habe nie eine Hand gehabt. Ich kenne das gar nicht. Ich sehe zwar in der Gesellschaft jeden mit Händen. Das ist normal, k.nnte man sagen. Aber für mich ist es nie normal gewesen, eine Hand zu haben“, erläutert Christian Lohr. „Wenn jemand einen Unfall hat und eine

Hand verliert – dann hat er sie verloren. Aber ich habe sie nicht verloren. Ich vermisse sie auch nicht.“ Er geht nicht mal so

weit zu denken: Was wäre wenn? „Alles, was ich dazu sagen könnte, wäre reine Spekulation. Natürlich ist die Tatsache, ohne Arme auf die Welt gekommen zu sein, nicht die Situation, die ich mir gewünscht hätte. Aber das ist wieder ein anderer Ansatz. Das Leben mit einer Behinderung ist kein Wunschkonzert. Punkt.“ Mit dem rechten Fuß unterstreicht er gestikulierend die Bedeutung seiner Worte – wie jeder andere Mensch. Nur haut er im Zweifel eben nicht mit der Hand auf den Tisch. [...]


 

Mehr zu Christian Lohr: http://www.lohr.ch

Foto von Markus Schwer:https://www.markusschwer.de



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